Plötzlich pflegen: Wenn die Mutter zum Pflegefall wird

von Competentia Redaktion

Wie Betriebe pflegenden Beschäftigten helfen können

Thomas Draganski hat drei Jahre lang seine demente Mutter neben dem Beruf gepflegt. Hätte sein Arbeitgeber ihn nicht unterstützt, wäre er wohl selbst zum Pflegefall geworden. Heute spricht er offen über diese herausfordernde Zeit.

Es war ein Anruf, der alles veränderte. „Meine Mutter war am Telefon und sagte völlig panisch, dass ich sofort kommen müsse. Fremde seien in ihr Haus eingedrungen und bedrohten sie.“ Thomas Draganski (54), seit 27 Jahren bei MECU Metallhalbzeug GmbH & Co. KG in Velbert tätig, fiel aus allen Wolken. Er ließ alles stehen und liegen, sagte seinem Chef Bescheid und fuhr zur Mutter. Die ältere Dame, die bisher körperlich und geistig fit alleine gelebt hatte, stand völlig aufgelöst auf der Straße und wehrte die vermeintlichen Eindringlinge ab. Draganski nahm sie in den Arm, führte sie ins Haus und schaffte es irgendwie, sie zu beruhigen. Für ihn und seinen Arbeitgeber begann damals vor sechs Jahren eine Belastungsprobe. Heute berichtet er offen über den Kraftakt, den die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege darstellt. Er möchte dadurch auf ein Thema aufmerksam machen, das seiner Meinung nach noch viel zu oft als rein private Angelegenheit gilt.

Corona machte auf das Thema aufmerksam

Das kann Leonora Fricker vom Kompetenzzentrum Frau und Beruf Düsseldorf und Kreis Mettmann (KFB) nur bestätigen. Die Erkenntnis, dass zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch die Pflege von nahen Angehörigen gehört, setzt sich gerade erst durch. Viele Arbeitgebende – wie Mecu – haben bereits erkannt, dass familiärer Stress die Erwerbsfähigkeit von Beschäftigten signifikant mindert und schaffen betriebliche Rahmenbedingungen, die Beschäftigte stark unterstützt und Arbeitsleistung sichert, so die Betriebswirtin, die im KFB mit Unternehmen Strategien zum Umgang mit dem Themengebiet Vereinbarkeit von Beruf und Pflege erarbeitet. Corona machte das Pflegethema in den Betrieben zusätzlich sichtbar. „Viele Beschäftigte mussten in den vergangenen Monaten neben der Arbeit häusliche Pflegesettings in der Familie neu organisieren.“

Leonora Fricker vom Kompetenzzentrum Frau und Beruf initiert die Schulungen der „Betrieblichen Pflegecoaches“.  (Foto: Melanie Zanin)

„Ich bin meinen Kollegen sehr dankbar“

Wie sich herausstellte, hatte Thomas Draganskis Mutter aufgrund einer beginnenden Demenz die Tabletten verwechselt. Diese Falschdosierung hatte Wahnvorstellungen ausgelöst. Es begann ein Marathon aus Terminen in Krankenhäusern, bei Ärzten, in der Psychiatrie, bei Beratungsstellen, bei der Stadt – und alle zu Öffnungszeiten, die Draganskis Bürozeiten entsprachen. „Ich habe meine Situation direkt offen kommuniziert“, sagt er. „Ich bin meinem Vorgesetzten sowie meinen Kollegen sehr dankbar, dass ich höchst unkompliziert und häufig kurzfristig den Arbeitsplatz verlassen konnte, um die vielen Termine wahrzunehmen. Anders hätte ich das nicht gepackt.“

pflegende Beschäftigte: Thomas Draganski
Thomas Draganski pflegte seine Mutter neben dem Vollzeit-Beruf. (Foto: privat)

Die psychische Belastung ließ nicht nach

Thomas Draganski und seine Partnerin entschieden sich damals, die Mutter bei sich aufzunehmen. Die Pflege zu Hause hielten sie zwei Jahre neben den Vollzeit-Berufen durch. Danach konnte die Mutter in einem Pflegeheim untergebracht werden. Die psychische Belastung ließ jedoch nicht nach. „Wie geht man damit um, wenn die eigene Mutter einen unter Tränen anbettelt, sie nicht zurückzulassen?“, fragt er. Ohne das Vertrauen und das unkomplizierte Entgegenkommen seines Arbeitgebers, hätte er es nicht geschafft. Drei Jahre dauerte die Situation an. Dann verstarb Thomas Draganskis Mutter. „Auf der Arbeit musste ich mich zu keiner Zeit rechtfertigen“, sagt er. Die Kollegen haben viel aufgefangen. Umgekehrt, würde er es für seine Kollegen und Kolleginnen genauso machen.

Zeigen, dass die Geschäftsführung sich verantwortlich fühlt

Das Thema Pflege und Beruf sei bei Mecu bereits seit 2009 auf der Tagesordnung. Seit ein Mitarbeiter aufgrund seiner Doppelbelastung zusammenbrach und starb. Dieses krasse Ereignis sollte sich nie wiederholen. Geschäftsführerin Sabine Lindner-Müller etablierte ein Notfalltelefon, eine kostenfreie telefonische Erstberatung bei der Diakonie in Velbert, und setzte das Thema ganz oben auf ihre Agenda. Info-Veranstaltung und interne und externe Öffentlichkeitsarbeit sollte den Mitarbeitenden zeigen, dass die Geschäftsführung sich verantwortlich fühlt und unterstützen möchte.

„Man weiß ja am Anfang gar nicht, wonach man fragen soll.“

Dieses Angebot nutze auch Thomas Draganski. Er sagt: „Man weiß am Anfang ja gar nicht, wonach man fragen soll. Man ist absolut in der Holschuld bei dem Thema und muss teilweise sehr hartnäckig sein.“ Die Erst-Beratung habe ihm wertvolle Hinweise zu Förderung und gesetzlicher Unterstützung gegeben. Mittlerweile hat die Firma mit Personalleiter Matthias Müller (Foto ganz oben) auch einen „Betrieblichen Pflege-Coach“. Diese durch das Kompetenzzentrum Frau und Beruf geschulte Person ist erster Ansprechpartner im Unternehmen für Mitarbeitende, die Fragen zum Umgang mit einem familiären Pflegefall haben. „Es wird natürlich immer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben, die das lieber alles alleine lösen wollen“, sagt Müller. „Aber für alle ist es wichtig, zu wissen, dass sie es nicht müssten. Der Weg kann manchmal auch ein einfacher sein.“

Mehr zum Thema und wie Sie Ihre Mitarbeitenden aktiv unterstützen können lesen Sie hier.

Dieser Artikel ist am 15.7. 2021 in der Lokalausgabe Velbert der WAZ erschienen.

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